Liberale Frömmigkeit. Zur Geschichte der süddeutschen Protestantenvereine im 19. Jahrhundert

Liberale Frömmigkeit. Zur Geschichte der süddeutschen Protestantenvereine im 19. Jahrhundert

Organisatoren
Verein für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden; Verein für pfälzische Kirchengeschichte
Ort
Bad Herrenalb
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.01.2008 - 12.01.2008
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Von
Christian Mack, Universität Basel

Am 11. und 12. Januar 2008 fand in Bad Herrenalb die Tagung „Liberale Frömmigkeit. Zur Geschichte der süddeutschen Protestantenvereine im 19. Jahrhundert“ statt. Die Tagung wurde vom Verein für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden und dem Verein für pfälzische Kirchengeschichte unter den Vorsitzenden JOHANNES EHMANN (Karlsruhe) und KLAUS BÜMLEIN (Speyer) gemeinsam organisiert und vorbereitet. Da es in der Geschichte des sogenannten „liberalen Südwesten“ im 19. Jahrhundert zahlreiche Parallelen und Querverbindungen gab, lag eine gemeinsame Untersuchung Badens und der Pfalz thematisch nahe, der in drei Hauptvorträgen und sechs Kurzreferaten nachgegangen wurde. Die Tagung beschäftigte sich mit grundlegenden Fragen zum kirchlichen Liberalismus im 19. Jahrhundert, von denen ausgehend die Protestantenvereine und deren liberale Epiphänomene untersucht wurden. Schließlich sollten neben der primär historischen Fragestellung der Tagung auch die Auswirkungen des kirchlichen Liberalismus bis in die heutige Zeit thematisiert werden.

Im Eröffnungsvortrag konstatierte JOCHEN CHRISTOPH KAISER (Marburg) ein seit Jahrzehnten bestehendes Defizit einer Gesamtdarstellung des kirchlichen Liberalismus. Die wissenschaftliche Vernachlässigung des Kirchlichen Liberalismus habe dabei nicht nur am bloßen Verdikt der dialektischen Theologie gelegen, sondern auch theologische und innerkirchliche Gründe gehabt. Die heutige Beschäftigung mit dem Kirchlichen Liberalismus habe ihrerseits erstens in der sozialgeschichtlichen Perspektive, zweitens im guten Ruf des Kirchlichen Liberalismus als Wegbereiter der Moderne und drittens in der engen Symbiose von Gesinnung und kirchlicher Haltung gute Gründe.

Kaiser führte aus, dass der Begriff „Kirchlicher Liberalismus“ nur im gleichnamigen RGG-Lexikonartikel von Martin Rade von 1929 dezidiert auftauche, während ansonsten andere Terminologien vorherrschten, da „liberal“ erst spät als eigenständiges und positiv besetztes Attribut einer bestimmten Theologie verwendet worden sei. Laut Rade bestehe der Kirchliche Liberalismus im permanenten Kampf gegen seine Gegner und fühle sich in der Opposition wohl. Seine Positionen und Inhalte seien zeitbezogen. Die inhaltliche Unbestimmtheit war für Kaiser auch seine große Schwäche. Dies habe Rade genauso wenig erkannt wie Friedrich Naumann. Als Schwachpunkte habe Rade vor allem empfunden, dass der Kirchliche Liberalismus an der Macht häufig versage und sich zu Tode gesiegt habe: Undankbare jüngere Theologen lehnten den kirchlichen Liberalismus ab, genössen aber seine Früchte. Dies, so Kaiser, sei als Kritik an der dialektischen Theologie zu verstehen.

Als einen inhaltlichen Schwerpunkt liberaler Theologie nannte Kaiser die Auseinandersetzungen um das Apostolicum, das wegen Jungfrauengeburt und Höllenfahrt Christi im 19. Jahrhundert vielen liberalen Pfarrern als unzeitgemäß erschien. Die dadurch ausgelösten öffentlichen Lehrverfahren brachten es mit sich, dass den Erkenntnissen der Theologie eine größere Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit zukam. Die Liberale Theologie, so Kaiser, habe sich dabei an zwei Fronten abgegrenzt: Zum einen gegen innerkirchliche Kritiker, zum anderen gegen agnostische Naturwissenschaften, die jegliche Offenbarungsreligion ablehnten. Der Kirchliche Liberalismus saß also zwischen allen Stühlen: Die kirchlich Orthodoxen lehnten den Liberalismus ab; die zum Atheismus neigenden Radikalen empfanden den Liberalismus als zu halbherzig; Sozialisten lehnten den Liberalismus wegen seines bürgerlichen Klassenstatus ab.

Kaiser resümierte, dass der Kirchliche Liberalismus in der theologischen Wissenschaft die historisch-kritische Methode angeschoben habe, hinter die man heute nicht zurück könne. Jedoch hätten orthodox-erweckliche Mischformen einen stärkeren Einfluss auf das kirchliche Alltagsleben gehabt als das bildungsbürgerliche Konzept des Liberalismus. Liberale Theologen seien zu ihrer Zeit oft gezielt von einflussreichen Posten in Kirche und Universität ferngehalten worden. Die nachfolgende Pfarrergeneration sei dadurch eher durch die sogenannten „Positiven“ beeinflusst worden und habe oft deren konservativere und antidemokratischere Einflüsse aufgegriffen.

In der Diskussion kam zur Sprache, dass der Begriff „Kulturprotestantismus“ zunächst als Schmähbegriff entstand und erst später zur Selbstbezeichnung wurde. Der Begriff „liberal“, so Kaiser, stelle immer nur einen Sammelbegriff dar, der stets unscharf war, unscharf sei und unscharf bleibe. Hinzu komme, dass Liberale Theologie und liberale politische Gesinnung im 19. Jahrhundert nicht automatisch miteinander einhergegangen seien.

Auch die Zurückdrängung des Kirchlichen Liberalismus nach 1918 wurde thematisiert. Sie hat für Kaiser maßgeblich drei Gründe: Zunächst Karl Barths Frontalangriff im Buch „Römerbrief“ (1919/2. Auflage 1922), zum anderen die „antihistoristische Revolution“ um Theologen wie Paul Tillich, Rudolf Bultmann oder Friedrich Gogarten. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei noch eine dritte Seite hinzugekommen: Die Theologen der Bekennenden Kirche. Die Bekennende Kirche, so Kaiser, habe eine „richtige“ Politik mit einer „richtigen“ Theologie verknüpft, wohingegen die Staatsauffassung der Bundesrepublik genau das Gegenteil besage: Aus einer Übereinstimmung in Grundsatzfragen können durchaus unterschiedliche politische Parteien entstehen. Ganz anders die Bekennende Kirche: Aus einer richtigen Theologie entspringe hier auch die richtige politische Haltung! Die öffentliche Meinungsbildung der Vertreter der Bekennenden Kirche nach 1945 trug laut Kaiser „semitotalitäre Züge“ und unterschied rigoros „richtige“ und „falsche“ theologische Meinungen. Erst in der 1960er-Jahren habe der Einfluss dieser eher kleinen, aber einflussreichen Gruppe nachgelassen.

Das Referat von CLAUDIA LEPP (Karlsruhe) befasste sich mit Statuten und Leben der Protestantenvereine in Baden und der Pfalz. Der Verein, so Lepp, war die Versammlungsform des liberalen Bürgertums schlechthin. Entsprechend seien auch die Protestantenvereine entstanden. In Baden bewog der liberale Protest beim Agendenstreit 1858 den Großherzog dazu, seine Kirchenpolitik zu ändern, führte Lepp aus. Die neue liberale Kirchenverfassung von 1861 sei zur liberalen Musterverfassung für andere geworden. Nach diesem Erfolg machte der badische Protestantenverein sich an die Organisation eines nationalen Protestantenvereins. Die Mitgliederzahl des Protestantenvereins in Baden war eher schwach. Getragen wurde der Verein überwiegend vom Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum. Als Ziele hatte sich der Verein die Bildung und den Kampf gegen die Einzwängung durch Dogmen gesetzt. Ein weiteres Ziel war die Herstellung der deutschen Einheit. Im Kulturkampf befürworteten viele Liberale entklerikalisierende Schulreformen. Auch im Kampf für die Zivilehe waren die badischen Liberalen die treibende Kraft. Ab den 1880er-Jahren ließ der Einfluss des Protestantenvereins als treibende kirchliche Kraft in Baden nach.

In der Pfalz entstand der „Protestantische Verein“ 1858 beim Kampf um die Einführung eines wenig rationalistischen Gesangbuchs. 1861 wurde von der Kirchenleitung verfügt, dass kein Gesangbuch gegen den Willen einer Gemeinde eingeführt werden dürfe. Der Protestantische Verein erreichte einen hohen Organisationsgrad mit großer Mitgliederzahl und großem Vermögen. Der Verein war ein echter Volksverein mit extensiver publizistischer Tätigkeit. Seine Ziele waren die Einflussnahme in der Frage der Kirchenverfassung, der Agende, des Gesangbuch und der Einführung eines gegenwartsgemäßen Katechismus. Zudem verstand er sich als Hüter der pfälzischen Union. Auch in der Pfalz führten die Erfolge zu einem Wandel. Die Wahrung des Erreichten trat in den Vordergrund, der Verein wandelte sich zum Bildungs- und Geselligkeitsverein mit sozialem Engagement.

Der badische Protestantenverein und der Protestantische Verein der Pfalz opponierten beide gegen ihre Kirchenleitungen und kämpften für eine liberale Kirchenverfassung. Ihre Unterschiede lagen eher auf struktureller Ebene: Baden war anfänglich das geistige Zentrum des Deutschen Protestantenvereins und stellte dessen Führungspersonal. Der Umschwung vom Rationalismus zum Kulturprotestantismus fand in Baden früher statt, da an der Heidelberger Universität intellektuelle Vordenker wirkten. Der Protestantische Verein der Pfalz stellte kein Führungspersonal, war aber in der Bevölkerung breiter verwurzelt.

Für WILHELM GRÄB (Berlin) ist in den Kirchen nichts so präsent wie das liberale Erbe. Zu diesem Erbe gehöre erstens eine Kirche ohne Bekenntniszwang, die den Gemeindegedanken fördere, zweitens eine Kirche, die die Vermittlung von Kirche und modernen Erkenntnissen sehe und zwischen Kirche und Theologie trennen könne, drittens eine Frömmigkeit, die nicht immer die Nähe zur Kirche suche, sich aber mit ihr verbunden wisse, eine persönliche Beziehung zu Jesus und eine Spiritualität ohne Dogmen ermögliche. Die innerkirchliche Atmosphäre sei heute viel pluralismusfreundlicher als früher. Heute dominiere eine moderate Kirchlichkeit, die die Kirche als Sinnstiftungsinstitution nicht missen wolle, sie aber kaum in Anspruch nehme.

Gräb erläuterte, dass der Kirchliche Liberalismus als Spielart des politischen Liberalismus entstanden sei, sich für die Rechte der Menschen gegen die staatskirchliche Autorität engagiert habe und der modernen Kultur gegenüber aufgeschlossen gewesen sei, um diejenigen bürgerlichen Schichten anzusprechen, die sich durch die klassische Kirchlichkeit nicht mehr vertreten gefühlt hätten. Das Anliegen sei die theologische Akzeptanz distanzierter Kirchlichkeit, sowie Bildung und Stärkung von Gemeindearbeit gewesen. Dem Kirchlichen Liberalismus, so Gräb, ging es um die Vergrößerung der Freiheitsspielräume zwischen verfasster Kirche und individuellem Gläubigen. Mit normativen Größen wie „Zugehörigkeitsgefühl“, „Gottesdienstbesuch“ oder „sozialer Nähe“ habe der Kirchliche Liberalismus nicht operiert: Wer getauft ist, gehöre dementsprechend zur Kirche, egal ob oder wie der Mensch in seinem religiösen Selbstverhältnis davon Gebrauch mache. Gräb führte die sozialpolitische Komponente des liberalen Paradigmas aus: Das Individuum spiele jenseits von sozialer Stellung oder Herkunft eine Rolle. Glaube sei nach liberalem Verständnis kein Wissen, sondern ein Vertrauen, das zur Lebensbewältigung beitrage und eine Kraftquelle für Leben und Handeln werde. Deswegen stehe der Glaube nicht im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Welterklärung. Der Liberalismus erkenne, dass die Religion in der modernen Kultur in ein neues Relevanzgefüge eingebettet ist, resümierte Gräb.

Gräb referierte, dass volkskirchliche Religionspraxis an den Übergängen des Lebens ein maßgebliches Konstitutivum von Zugehörigkeit sei. Besonders die liberale Frömmigkeit sei an den individuellen Sinndeutungsprozessen der Kasualpraxis interessiert. Aus heutiger Sicht scheine „Spiritualität“ als eine seiner Quellen die liberale Frömmigkeit zu haben: Ein Glaube, der aus eigener Kraft erwachsen möchte, sich selbst transzendiere, bei sich selbst Anschluss suche und finde und aus eigener Erfahrung wachsen möchte. Glaube und Gemeinde stellten einen Lebensgewinn dar und steigerten Zugehörigkeitsgefühl und Geborgenheitserfahrung. Spirituellen Sinngrund müsse man sich laut Gräb nicht mehr als personale Wirklichkeitsform vorstellen. Aus Sicht der Liberalen Theologie müsse man keine Sorge haben, wenn die Neurologie den Ort der Religion im Gehirn erforscht, so Gräb, denn das Verhältnis des Menschen zur Transzendenz sei eine Aktivität seines Bewusstseins. Es mache auch keinen Sinn, das Kasualchristentum gering zu schätzen, weil es hier um eine Spiritualität eigenen Rechts gehe. In einer liberalen Spiritualität suchten die Menschen nach einer Entgegenständlichung des Glaubens, dass man die Dinge nicht so lesen müsse, wie sie dastehen, sondern auch in ihrem Symbolgehalt lesen dürfe, so Gräb, denn Glaube sei Suchen und Tasten. Glaube als spirituelle Daseinsgewissheit verlange daher nach sinnlicher Wahrnehmung, nach Gefühl, nach Metaphern und Symbolen. In den Ausdrucksformen des Glaubens könnten auch Glaubensbekenntnisse oder Gesangbücher eine Rolle spielen.

Anhand zweier Entwürfe legte THOMAS KUHN in seinem Referat dar, wie der theologische Liberalismus seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine offensive Rechristianisierung verfolgte. Emil Zittel, Dekan in Karlsruhe, wollte den leeren Kirchen mit einem lehrhaft-informativen Gottesdienst ohne liturgische oder symbolisierende Elemente begegnen: Die Predigt solle einen praktischen Blick auf die moderne Zeit werfen und auf historisch und politisch kritische Themen verzichten. Religiöse Deutung lebenswirklicher Problemstellungen sei Zittel wichtiger gewesen als Exegese und Bibelauslegung. Zittels bildungsorientierte Perspektive habe ihm den Blick auf die Landbevölkerung verstellt, resümierte Kuhn. Heinrich Bassermann, liberaler Theologieprofessor in Heidelberg, wollte den Einzelnen ins Blickfeld nehmen, warnte aber vor einer Verabsolutierung von Individualismus und Subjektivismus. Bassermann, befand Kuhn, habe also liberale Liberalismuskritik geübt. Sein Gottesdienstkonzept habe einen bildungsorientierten und erbaulichen Impetus verfolgt und maß Bekenntnissen nur relative Bedeutung bei. Der Liberalismus sollte verkirchlicht und enttheologisiert werden. Für Kuhn stelle dies jedoch keine intellektuell und theologisch befriedigende Lösung dar.

KLAUS BÜMLEIN verglich in seinem Beitrag die Entwicklung der Katechismen in Baden und der Pfalz. In beiden Landeskirchen seien nach den Kirchenunionen zunächst rationalistisch geprägte Katechismen entstanden, die der Sprachwelt und Kultur des 19. Jahrhunderts entsprechen sollten. Mitte des 19. Jahrhunderts kam es in beiden Ländern zu heftigen Auseinandersetzungen um neue Katechimusvorschläge, insbesondere durch den Gegensatz von konservativen Kirchenleitungen und liberal dominierten Synoden, wie Bümlein erläuterte. Ursprünglich sollten die neuen Katechismen viel konservativer werden, woran sich heftige Auseinandersetzungen entzündeten, die diese Vorhaben zunichte machten. In beiden Ländern wurden nach heftiger Gegenwehr liberal beeinflusste Katechismen eingeführt. Umgekehrt führten die Auseinandersetzungen dazu, dass die neuen Katechismen den Radikalismus der rationalistischen Katechismen ablegten und sprachlich etwas milder ausfielen. Bümlein schloss seinen Beitrag mit einem Vergleich der Wirkungsgeschichte beider Katechismen: Während in Baden der Katechismus von 1882 im 20. Jahrhundert abgelöst wurde, scheiterten in der Pfalz seither alle Versuche, einen neuen Katechismus einzuführen, weswegen der Katechismus von 1869 bis heute gelte.

JOHANNES EHMANN beschäftigte sich mit einem der wichtigsten Vordenker Liberaler Theologie: Richard Rothe, langjähriger Professor in Heidelberg. Ehmann behandelte zunächst die Größen „Staat“, „Gesellschaft“ und „Individuum“ bei Rothe. Der Staat sei die Gemeinschaft der wahren Sittlichkeit. Aufgabe und Ziel der Kirche sei es, in den Staat einzugehen. Gesellschaft sei für Rothe „moralische Gemeinschaft im Werden“. Rothe ordne den Einzelnen grundsätzlich der Institution vor. Sein Kultivierungskonzept sei ein Versuch gewesen, Glaube und Vernunft, Religion und Bildung zu versöhnen. In der Entkirchlichung sah Rothe nicht die Aufhebung, sondern den Weg der Kirche: Kirche als Institution im Übergang. Rothes Kultursynthese stellt für Ehmann ein typisches Merkmal des Liberalismus dar. Rothes Ideal war die sittliche Durchdringung der Welt durch das Eingehen des Christentums in die moderne Kultur; Säkularisierung erscheint hier als Selbstaufhebung der institutionalisierten Kirche. Im Rückgriff auf Fichte sah Rothe jedoch im Staat das wichtigste Instrument zur Moralisierung. Sein Staatsverständnis sei also nicht liberal, so Ehmann. Rothes Gemeinschaftsgedanke bleibe sehr interimistisch und transitorisch. Seine Theologie könne dadurch kaum Gestaltungskraft gewinnen und bleibe dadurch unpolitisch. So akzeptiere Rothe beispielsweise Ständegesellschaft und die Rolle der Geschlechterordnung. Auch dies stehe im Widerspruch zu liberalen Überzeugungen.

Der Vortrag von UDO WENNEMUTH beschäftigte sich mit liberaler Erinnerungskultur. Liberale Erinnerungskultur sei bürgerliche Erinnerungskultur, so Wennemuth. Das Luther-Jubiläum 1883 wurde in Baden das erste große Erinnerungsfest auf landesweiter Ebene. Luther wurde zum Vorbild für Wahrheits- und Freiheitssinn, gegen Ultramontanisten und protestantischen Konservativismus stilisiert und sollte zur Einigungsformel eines zerrissenen Protestantismus werden. Luther sollte als Vorbild für Glaubenstreue und Geistesfreiheit dienen, jedoch nicht zum nationalen Ideal des Deutschen. Gegen die Lutherfeiern habe es auch Vorbehalte gegeben: man befürchtete ein Wiederaufflackern des Kulturkampfes. Die Lutherfeiern dienten den Liberalen zur Neuausrichtung des eigenen Lutherbildes und trugen zur konfessionellen Polarisierung innerhalb der Badischen Landeskirche bei, so Wennemuth. Die Feiern blieben überwiegend binnenkirchlich und dienten der Selbstvergewisserung, Identitätsstiftung und protestantischen Selbstdarstellung.

FRIEDHELM BORGGREFE trug vor, wie der Liberalismus auf die sozialen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts mit Bildungsoffensiven und mit Netzwerken von Bürgern, Industriellen, Pfarrern reagierte. Viele Industrielle lebten im 19. Jahrhundert nach der Pflichtenlehre Richard Rothes, der die Bildung im Vertrauen auf die sittliche Entwicklung der Menschen hochgeschätzt hatte. Rothes Einfluss auf Großbürgertum und Wirtschaft führte beispielsweise zu betrieblicher Sozialfürsorge, Vereinshäusern, Arbeitersiedlungen, Betriebskrankenkassen, Stiftungen, Hinterbliebenenkassen, Erziehungsheimen, Frauenhäusern, Sozialsiedlungen, Krankenpflegestationen und anderem. Auch dies gehöre zur Geschichte des Liberalismus, so Borggrefe. Auf lokaler Ebene wurde die soziale Arbeit vielfach in Kooperation von Liberalen und Innerer Mission getätigt. Der Schwerpunkt liberaler Sozialarbeit lag auf Bildung und pädagogischen Einrichtungen. Sie erwuchs zu einer Alternative zur pietistisch-erwecklichen Sozialarbeit und verstand sich laut Borggrefe als christlich motivierte Arbeit ohne Missionsanspruch. Nicht zu unterschätzen sei zudem der liberale Einsatz für die Frauenemanzipation. Gleichwohl habe das liberale Engagement in der Sozialen Frage erst zögernd angefangen. Über viele Jahre waren Gesangbuch- oder Katechismusstreit wichtiger.

GABRIELE STÜBER referierte über den 1883 in Frankfurt gegründeten „Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsverein“ (AEPMV; seit 1929 „Ostasienmission“), der entstanden war, da es in den bisherigen, eher konservativen Missionsgesellschaften kaum Möglichkeiten gab, andere theologische Ansichten einzubringen. Der Aufbau der AEPMV geschah nach demokratischen Grundsätzen. Der AEPMV verstand sich als überparteilich und übernational. Er wollte die schulische und ärztliche Mission fördern und legte Wert auf eine „Mission im Dialog“, so Stüber. Man wollte den alten Kulturvölkern Ostasiens nicht einfach wahllos die gesamte Kultur des Westens aufzwingen, sondern den Gott Europas auch als Gott Chinas oder Japans verkündigen und zugleich dabei helfen, China zu modernisieren. In Yokohama gründete Missionar Wilfried Spinner deutsch- und japanischsprachige Gemeinden und eine deutsche Schule. In Tsingtao entstanden Schulen und Krankenhäuser, unter anderem das bekannte „Faberhospital“. In der dortigen Missionsschule fand religiöse Unterweisung nur dann statt, wenn die Schüler dies wollten. Zu Gemeindebildungen kam es in China bewusst nicht, um das Christentum nicht weiter aufzuspalten. Von den bestehenden Missionswerken wurden die Tätigkeiten des AEPMV als überflüssige, theologisch nicht zu greifende „Kulturmission“ kritisiert. Längst vergangene theologische Grabenkämpfe wirkten in der Mission noch nach. Die Kritiker übersahen dabei, dass der AEPMV sich nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu den anderen Missionswerken verstand, resümierte Stüber.

Die Schlussdiskussion fragte nach Errungenschaften und Erbe des Kirchlichen Liberalismus. Für Klaus Bümlein lag die bleibende Stärke des Liberalismus in der Fragestellung, wie der Glaube seine Sprache findet, und daneben in der immer noch aktuellen Frage vom Verhältnis von Glauben und Kultur. Viele Teilnehmende fragten nach Schwächen und Stärken des liberalen Paradigmas sowie Ambivalenzen, die angesprochen oder erforscht werden sollten, zum Beispiel mögliche nationalistische oder antisemitische Tendenzen. Claudia Lepp erläuterte, dass der Protestantenverein die Judenemanzipation stark gefördert habe und ungeachtet nationaler Orientierung in vorbildhafter Weise nicht antisemitisch gewesen sei. Kritisiert wurde von einigen Teilnehmenden, dass der Kirchliche Liberalismus auf Entwicklungen wie Mission oder Diakonie verspätet reagiert habe. Thomas Kuhn wies diese Kritik als zu einseitig zurück. Man müsse auch fragen, wo der Liberalismus gesellschaftlicher Vorreiter gewesen sei, so Kuhn, beispielsweise bei der demokratischen Entwicklung und der freien Wissenschaft. Umstritten blieb der engagierte Vortrag Wilhelm Gräbs. Insbesondere wurde bezweifelt, ob sich auf solche Weise predigen und handeln lasse. Christoph Schneider-Harpprecht gab zu bedenken, dass Gräb die Substanz kirchlicher Betätigung nicht pflege, von der auch der Kirchliche Liberalismus lebe, wenn Gräb das, was sich am liberalen Rand der Kirche bewege, zur Mitte erhebe.

Kurzübersicht:

Hauptvorträge

JOCHEN CHRISTOPH KAISER, Marburg
Kirchlicher Liberalismus

CLAUDIA LEPP, Karlsruhe
Statuten und Leben des Protestantenvereins in Baden und der Pfalz

WILHELM GRÄB, Berlin
Gibt es das liberale Erbe?

Kurzreferate

THOMAS KUHN
Liberale Gottesdienstpraxis

KLAUS BÜMLEIN
Katechismen

JOHANNES EHMANN
Liberale Theologie: Richard Rothe

UDO WENNEMUTH
Liberale Erinnerungs-Kultur und Jubiläen

FRIEDHELM BORGGREFE
Liberalismus und soziale Herausforderungen

GABRIELE STÜBER
Liberalismus und Mission

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Christian Mack, Dipl.-Theol., Universität Basel (CH)
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